Romane, Kurzgeschichten und erotische Texte – Julia Knapp liest Erwachsenen vor. Für eine originelle Betonung imitiert sie auch mal die Stimme eines Bekannten.
Text: Rahel Schmucki Bilder zVg: Bon Wongwannawat und Ewald Vorberg
Julia Knapp wirft den Vorhang zur Seite, geht mit harten Schritten die Stufen zur Bühne hinunter, ihr schwarzer Rock schwingt hin und her. Die Aufmerksamkeit des Publikums ist ihr mit diesem Auftritt bereits sicher. Sie stellt sich vors Mikrofon, klappt ihre Mappe auf und beginnt zu lesen.
Knapp ist Vorleserin. Sie liest Erwachsenen vor: Romane, Erzählungen, feministische und gelegentlich erotische Texte. Manchmal im Rahmen einer Degustation, manchmal zusammen mit einer Musikerin. An diesem Abend, im Kellertheater Ono in Bern, ist es «Lolly Willowes oder der liebevolle Jägersmann» von Sylvia Townsend Warner. Der Roman handelt von einer unverheirateten Frau im England der 1910er-Jahre, die gern alleine leben möchte. Ihre Familie spannt sie jedoch immer wieder als Kindermädchen oder Haushälterin ein. Bis sie einen Pakt mit dem Teufel eingeht.
Die Vorbereitung ist alles
Die 36-jährige Zürcherin ist mit einem grossen gelben Koffer angereist. Darin befinden sich ein schwarzer Rock, eine weisse Spitzenbluse und ein schwarzer Hut. Die typische Kleidung der Londoner Gesellschaft in den 1910er-Jahren, die sie im ersten Teil der Lesung tragen wird. Des Weiteren als Requisiten ein alter Vogelkäfig, Blumen, eine Vase, eine Karaffe, ein gehäkeltes Tischtuch und ein Korb mit Äpfeln. «Ich weiss, dass die Kostüme und die Kulisse ein bisschen klamaukig sind. Aber viele Leute sind es heute nicht mehr gewohnt, eine Stunde lang nur zuzuhören. So gibt es auch etwas fürs Auge.»
Ein Scheinwerfer beleuchtet die Vorleserin auf der Bühne. Sie gestikuliert, ihre Stimme wird leiser und lauter, höher und tiefer. Ihre Worte kommen mal langsam, mal schneller. Nun erreicht die Geschichte eine Wendung: Die Hauptfigur versucht ihrer Familie zu entkommen und zieht aufs Land. Für Julia Knapp das Stichwort, um schwungvoll von der Bühne zu verschwinden, um nach wenigen Sekunden in ihrem zweiten Kostüm vor dem Publikum zu stehen: einem blau geblümten Rock, auf dem Kopf einen Strohhut. Statt des Vogelkäfigs steht nun der Korb mit Äpfeln auf dem Tisch.
Knapps Auftritte sind minutiös geplant. Schon zwei Wochen zuvor hat sie in ihrem Lieblingskostümverleih nach dem passenden Outfit gesucht, mehrere Kleider anprobiert. Ihr wichtigstes Kriterium bei einem Kostümwechsel: Die Bühne darf nicht zu lange leer bleiben. Deshalb hat sie einen Rock ausgeliehen, unter den ein zweiter passt. Mit wenigen Handgriffen kann sie so ihre Garderobe und die Kulisse verändern.
Geheimzeichen im Skript
Wenn Julia Knapp ihre linke Hand nicht gerade zur Unterstützung ihrer Worte einsetzt, fährt sie mit dem Zeigefinger auf ihrem Skript entlang. Darin hat sie sich bei ihrer Vorbereitung verschiedene Zeichen notiert. Ein Auge dort, wo sie ins Publikum schaut. Das Musiksymbol für forte an Stellen, an denen sie mit lauter Stimme spricht. Und den Namen eines Bekannten, dessen spezielle Stimme sie imitieren will. «Das Wichtigste für eine gute Lesung ist, den Text begriffen zu haben. Dann ergeben sich Ideen für die Interpretation wie von selbst», sagt Knapp. Deshalb hat sie nicht nur das Buch gelesen, sondern auch Bilder der beschriebenen Orte angesehen und sich über die korrekte Aussprache englischer Begriffe erkundigt.
Was sie vorliest, übt sie leise in etwa 30 Wiederholungen. «Laut lese ich vor der Aufführung den Text selten, nur so fünf oder sechs Mal.» Wie sie liest, hängt auch vom Publikum ab. «Ich gebe am Anfang so richtig Gas. Je nachdem, wie das ankommt, passe ich meine Lesung an. Baue mal mehr Humor ein oder lese besinnlicher. In dieser Lesung kommt nicht viel vom Publikum, das Masken tragen muss und weit auseinander sitzt.»
So liest man besser vor
Vorbereitung:
• Überlegen Sie sich vor dem Vorlesen, an welchen Textstellen Sie atmen können.
• Ein Warm-up für die Muskeln und Stimmbänder hilft, dass Ihre Stimme angenehmer klingt. So seltsam es wirkt: Imitieren Sie einen Hund. Nach intensivem Hecheln fliesst der Atem leichter.
Während des Vorlesens:
• Verschlucken Sie nicht die Endungen.
• Sprechen Sie die Konsonanten schön aus, unterscheiden Sie zum Beispiel zwischen W und V.
• Nehmen Sie sich Zeit. Man kann fast nicht zu langsam vorlesen.
• Suchen Sie den Blickkontakt zu Ihren Zuhörerinnen und Zuhörern. Achtung, vor dem Aufschauen mit dem Finger markieren, wo im Text Sie gerade sind.
Vor Corona gab Knapp bis zu zehn Lesungen pro Jahr. Sie wird von Verlagen oder von Privatpersonen gebucht. «Wenn mir ein Buch oder ein Text besonders gut gefällt, habe ich auch schon selber eine Lesung organisiert», sagt sie. Jetzt ist es ein bisschen ruhiger geworden, der Auftritt im Theater Ono ist einer ihrer ersten seit März. Julia Knapp hat immer gerne gelesen. Aufgewachsen ist sie in der Nähe von Weinsberg, einer Kleinstadt bei Stuttgart. Bereits als Zehnjährige besuchte sie eine lokale Theatergruppe. Dort entdeckte sie ihre Begeisterung für Bühnenauftritte. «Es fasziniert mich bis heute, Menschen zu begeistern. Besonders die harten Nüsse, die Leute, die nie oder wenig lesen. Sie versuche ich zu knacken.» Knapp hat Literatur, Philosophie und Italienisch studiert.
In die Schweiz kam sie für eine Stelle in einem Verlag in Wädenswil ZH. Heute arbeitet sie bei Orell Füssli als Eventmanagerin. Lesungen realisiert sie nebenbei. «Als Abwechslung zum Bürojob und aus Freude an der Sache», sagt sie. Ihre Muttersprache helfe ihr auf der Bühne. Aber jeder könne sich ein Bühnenhochdeutsch antrainieren. Auch ihr Hochdeutsch sei nicht perfekt. «Das Schweizer Publikum hört zum Glück meistens über meinen schwäbischen Akzent hinweg.»
Nach gut einer Stunde schlägt Julia Knapp in ihrem Skript die letzte Seite auf. Lolly Willowes hat gerade den Pakt mit dem Teufel geschlossen. «Den Rest verrate ich nicht. Nur so viel: Lolly wird ihre Familie endlich los.» Knapp klappt ihre Mappe zu, verbeugt sich mit einem leichten Knicks und verlässt die Bühne so schwungvoll, wie sie gekommen ist.
Weitere Informationen zu Julia Knapp.
(Artikel erschienen im Migros-Magazin vom 12. Oktober 2020)