Die Zeugen des Holocaust sterben aus, doch auch ihre Nachkommen können berichten. Ari Hechel ist einer von ihnen. Er spricht in Schulklassen über seine Grossmutter Biboche, die vor den Nazis fliehen musste, und seinen Ururgrossvater, der in Auschwitz ermordet wurde.
Text: Rahel Schmucki Bilder: Nik Hunger
Biboche kommt 1937 in Strassburg auf die Welt. Sie lebt dort mit ihren Eltern und den Gross- eltern. Die Familie betreibt ein Kleidergeschäft, bis 1939 der Zweite Weltkrieg ausbricht. Der Vater wird eingezogen und, als die Deutschen 1941 einen Teil von Frankreich einnehmen, gefangen genommen. Die übrigen Familienmitglieder fliehen in den noch unbesetzten Teil des Landes, nach Marseille. Als Juden sind sie besonders gefährdet. Biboche ist vier Jahre alt.
Ari Hechel zeigt auf der Leinwand das Bild eines Mädchens an der Hand eines älteren Mannes. Sie hat dunkle lockige Haare, trägt ein Mäntelchen und Kniestrümpfe. In der Klasse der Sekundarschule wird es ganz still. «Das ist meine Grossmutter Biboche, als sie noch klein war, kurz nachdem sie nach Marseille fliehen musste.» Der 21-jährige Sekundarlehrer in Ausbildung erzählt seine Familiengeschichte in Schulklassen. Heute spricht er vor einer 3. Sek BC in Urdorf ZH. Kein einfaches Unterfangen. Die Klassenlehrerin hat in der Klasse mehrmals Hakenkreuz-Kritzeleien gefunden. Darum hat sie Ari Hechel um einen Besuch angefragt. «Ich will, dass meine Schülerinnen und Schüler wissen, was mit diesem Symbol verbunden ist», sagt die Lehrerin.
Biboches Vater übersetzt in einem Hospiz Französisch-Deutsch. Es gelingt ihm, seine jüdische Herkunft zu verbergen. Schliesslich wird er freigelassen. Auf dem Weg nach Marseille wird er von zwei Nazis im Auto mitgenommen. Sie entdecken nicht, dass er Jude ist. Er schafft es zu seiner Frau und zu Biboche.
Die Schüler lauschen Hechels Geschichte gebannt. Jemand fragt: «Wieso ist ihre Familie nicht einfach zum Christentum konvertiert?» Hechel erklärt, dass das für die Nazis in ihrer Rassenlehre keinen Unterschied gemacht hätte. Er verteilt den Schülern zwei Zettel. «Das sind alle Namen von Mitgliedern meiner Familie, die während des Kriegs ermordet wurden.» Auf zwei Seiten sind rund 100 Namen aufgelistet. Die meisten Verwandten lebten damals in Polen. Einem Schüler fällt ein Blatt her- unter, sofort hebt er es auf, legt es behutsam auf den Tisch. Die Klasse ist sichtlich betroffen.
1943. Mittlerweile sind die Nazis auch in Marseille. An einem Samstag geht Biboches Gross- vater, damals knapp 70 Jahre alt, in die Synagoge zum Beten. Die Familie will ihn davon abhalten. Er geht trotzdem und wird mit vielen anderen Juden verhaftet. Er wird zuerst ins Konzentrationslager Drancy bei Paris gebracht, dann auf einen Zug nach Auschwitz und dort ermordet. Einer von sechs Millionen.
«Dass mein Ururgrossvater deportiert wurde, hat meine Familie nur erfahren, weil ein kleiner Junge vom Lkw springen konnte und alles erzählt hat», fährt Hechel fort. Er zeigt eine Europakarte, auf der eine Strecke markiert ist. Auf diesem Weg gelangte sein Ururgrossvater in einem Viehwaggon nach Auschwitz. Das geht aus Akten hervor, die Hechels Vater im Archiv fand. «Wo und wie er gestorben ist, wissen wir nicht genau. Ob er bereits auf der Fahrt, zusammengepfercht mit vielen anderen, starb oder ob er in Auschwitz vergast wurde.» Von seinem Ururgrossvater ist ihm nur ein Gebetsmantel geblieben, den er vor seinem Synagogenbesuch zu Hause vergessen hatte. Das über 100 Jahre alte Tuch reicht Hechel in die Runde. «Heute trage ich diesen Tallit, wenn ich die Synagoge besuche.»
Als die Familie von der Deportation des Grossvaters hört, besorgt Biboches Vater gefälschte Pässe, denn ihre Namen klingen sehr jüdisch. Sie besteigen den Zug Richtung Nizza, das damals zu Italien gehörte. An der Grenze wird der Zug von Nazis kontrolliert. Vor Aufregung gibt Biboches Vater dem Soldaten die echten Pässe: Ein nicht enden wollender Moment. Nach der Kontrolle meldet der Soldat: «Keine Juden an Bord.» Die Familie erreicht wie durch ein Wunder Nizza.
Die Schüler sehen sich zwei Abbildungen von Ausweisen an. Auf beiden ein Foto von Biboches Mutter. Welches ist der echte und welches der gefälschte Pass? Man erkennt es an den Namen: Aus dem jüdischen Nachnamen «Dreifuss»* wurde der französi- sche Nachname «Dolle».
«Eine positive Begegnung mit einem Juden kann Vorurteile aus dem Weg räumen.»
Ari Hechel, Nachkomme von Holocaust-Opfern.
Die Nazis nehmen Nizza ein, die Familie flieht ins Landesinnere von Frankreich, taucht auf Bauernhöfen unter und ver- schweigt die jüdischen Wurzeln. Da die Grossmutter nur Jiddisch spricht, geben sie sie als taubstumm aus. Sie darf monatelang kein Wort sprechen.
Ari Hechels Familie lebt auch heute den jüdischen Glauben. «Ich bin mit jüdischen Traditio- nen aufgewachsen, wir sind aber eher pragmatisch», sagt Hechel. Er besuchte eine jüdische Pri- marschule und lernte Hebräisch. Am Samstag geht die Familie in die Synagoge. Zu Hause wird ko- scher gegessen, es gibt getrenntes Besteck für Fleischgerichte und für Gerichte mit Milchproduk- ten. Auf Schweinefleisch wird verzichtet. «Wenn ich auswärts esse, ernähre ich mich der Ein- fachheit halber vegetarisch.»
1945, nach dem Krieg, kehrt Biboche mit ihrer Familie nach Strassburg zurück. In ihrer Wohnung hatten Nazis gewohnt und an ihrem Holztisch ge- gessen. Trotzdem bleibt die Familie in ihrem alten Zuhause und feiert weiter am selben Tisch Schabbat. Biboche besucht mit acht Jahren zum ersten Mal eine Schule.
Seine Religion sieht man Ari Hechel nicht an. Er trägt weder Schläfenlocken noch Kippa.
Bei seinen Stellvertretungen in Schulklassen hört er manchmal antisemitische Sprüche oder Judenwitze. «Das verletzt mich.» Er sagt dann, dass er Jude sei. Bis jetzt tat es allen Schülern leid, die einen unbedachten Witz gemacht hätten. Das zeige, dass es immer noch Vorurteile gegenüber Juden gebe und die Geschichte langsam in Vergessenheit gerate.
«Antisemitismus wird es leider immer geben.»
Ari Hechel, Nachkomme von Holocaust-Opfern.
«Antisemitismus wird es leider immer geben. Aber eine positive Begegnung mit einem Juden kann Vorurteile aus dem Weg räumen», davon ist Ari Hechel überzeugt. Deshalb engagiert er sich beim Projekt «Holocaust. Nachkommen erzählen.» (siehe Box). Auch mit dem Projekt «Likrat» geht er in Schulklassen und spricht über das Judentum. Heute hat er sein Ziel erreicht. «Was bedeutet koscher?», «Sprechen Sie Hebräisch?», «Waren Sie einmal in Auschwitz?» Die Schülerinnen und Schüler stellen ihm viele Fragen und saugen die Informationen regelrecht auf.
Als junge Frau lernt Biboche einen Schweizer Juden kennen und zieht nach Zürich. Den alten Holztisch, die Stühle und weitere Möbel nimmt sie mit. Sie stehen heute in der Wohnung von Ari Hechels Eltern in Zürich, und am Tisch feiert die Familie noch immer Schabbat.
Vor ein paar Jahren starb Biboche an Krebs. Sie hat selten mit ihrem Enkel über ihre Familiengeschichte gesprochen. «Vielleicht habe ich auch zu wenig nachgefragt», sagt er leicht schuldbewusst. Die meisten Informationen über die Familiengeschichte stammen von einer Tonkassette aus den 1980er-Jahren. Damals hatte sein Vater Biboches Vater interviewt. «Die Qualität ist miserabel, und sie sprechen Französisch», sagt Hechel. Zusammen mit seinem Vater habe er Satz für Satz übersetzt, um die Geschichte weiterzuerzählen. Damit Biboche und ihre Familie nicht in Vergessenheit geraten.
* Zum Schutz der Privatsphäre der Familie verwenden wir im Text ein Pseudonym.
(Erschienen im Migros-Magazin von 4. April 2022)
«Holocaust. Nachkommen erzählen.»
Heute sind nicht mehr viele Zeitzeugen des Holocaust am Leben. Damit die Geschichte nicht in Vergessenheit gerät, hat die Stiftung Erziehung und Toleranz (SET) das Projekt «Holocaust. Nachkommen erzählen.» ins Leben gerufen. Seit gut einem Jahr besuchen zwölf Nachfahren von Holocaustüberlebenden Schulklassen (in der Sekundarschule, der Berufsschule und im Gymnasium) und erzählen ihre Familiengeschichte. Eine Geschichtslektion eines Nachkommens dauert rund 90 Minuten.Interessierte Lehrpersonen können sich hier anmelden: set.ch/holocaust-nachkommen