Im August ist wieder Schulbeginn, Kinder und Jugendliche machen sich in Scharen auf den Weg – auch zu Wasser oder durch die Lüfte. Das Migros-Magazin hat einige auf ihren aussergewöhnlichen Routen begleitet.
Text: Rahel Schmucki, Laurent Nicolet Bilder: Franziska Frutiger, Dominique Smaz
Über die Hängebrücke
Der Schulweg von Nils, Mia, Fabia und Vera Wäfler führt ab Frutigen, Hohstalden, nach Frutigen Achseten. Für die zehn Kilometer lange Strecke brauchen sie zu Fuss und mit dem Bus rund 40 Minuten.
Zwei Stahlseile sichern die 153 Meter lange Hängebrücke, die bei jedem Schritt mitschwingt. Sie führt in einer Höhe von 38 Metern über die tosende Engstlige und ist die einzige Verbindung zwischen der Hauptstrasse und dem Haus der Familie Wäfler in Frutigen im Berner Oberland.
Die Geschwister Nils (13), Mia (11) Fabia (10) und Vera Wäfler (6) müssen die Brücke überqueren, wenn sie zur Schule gehen. Bereits um 6.45 Uhr verlassen die drei älteren das Haus, denn um 6.55 Uhr wartet hinter der Hängebrücke der Schulbus auf sie. Vera (6), die Kleinste, kann etwas länger schlafen. Ihr Bus fährt erst um 7.40 Uhr zum Kindergarten. Sie überquert die Brücke allein. Das ist für sie kein Problem, denn für die Kinder ist die Hängebrücke ein Teil ihres Alltags. An einem normalen Schultag gehen sie diesen Weg zwei Mal. Das Mittagessen nehmen sie in der Schule ein.
Obwohl der Weg zur Schule und zum Kindergarten nur zehn Kilometer lang ist, dauert die Fahrt zum Schulhaus Rinderwald im Ortsteil Achseten eine halbe Stunde. «Der Schulbus holt auf der Tour jedes Kind vor seinem Zuhause ab», erklärt Karin Wäfler, die Mutter der Kinder. Und Nils ergänzt: «Wenn im Winter viel Schnee liegt und der Busfahrer die Schneeketten montieren muss, kanns auch mal 50 Minuten dauern.»
Gäste haben immer Vortritt
Die Kinder verstecken sich beim Brückeneinstieg im Gebüsch, suchen wilde Erdbeeren und turnen laut schwatzend um die Spannseile. Sie warten, bis eine Schulklasse der Oberstufe die Brücke überquert hat. «Die Gäste haben immer Vortritt», erklärt Mia. Die Jugendlichen kreischen und klagen über Höhenangst. Das kennen die Wäfler-Geschwister nicht. Es gelten zwar Vorsichtsregeln: «Wir dürfen nicht aufs Geländer klettern und nicht rennen», erklärt Fabia. Aber Angst auf der Brücke? «Nein, da kann ja nichts passieren», sagt Mia.
Über die Wellen
Maggie Santiago pendelt zwischen Wädenswil und Küsnacht. Wenn die Gymnasiastin das Schiff von Thalwil nach Küsnacht nimmt, legt sie 15 Kilometer in 38 Minuten zurück.
Mit einem leisen Rauschen legt die «MS Uetliberg», das Schiff der Zürichseeflotte, in Küsnacht ZH an. Der Matrose wirft das blaue Tau durch die Luft und bindet es am Anlegepfosten fest. Die 18-jährige Maggie Santiago wartet bereits am Schiffssteg, über der Schulter trägt sie eine pinkfarbene Tasche, ihr rosa Halstuch weht leicht im Wind. Sie ist auf dem Heimweg, kommt gerade von der Kantonsschule Küsnacht, wo sie nach den Sommerferien ihr letztes Jahr absolviert – «mit Schwerpunkt Spanisch», wie sie ergänzt. Zu Hause ist die 18-Jährige in Wädenswil, auf der anderen Seeseite.
Würde sie die Strecke mit dem Zug zurücklegen, müsste sie einmal um den halben See fahren. Das dauert je nach Verbindung fast eine Stunde. Mit dem Kursschiff zwischen Thalwil und Küsnacht hingegen dauert es nur 38 Minuten; zehn Minuten davon verbringt sie dann auf dem Schiff. «Dreimal pro Woche passt der Schiffsfahrplan zu meinem Stundenplan», sagt sie. Denselben Weg legen auch viele andere Schüler der Kantonsschule Küsnacht zurück. Ihre Freunde begleiten sie meist aber nur auf dem Heimweg über den See. «Sie nehmen morgens lieber den Zug über Zürich.»
Maggie Santiago steigt ein und setzt sich im Aussenbereich in den vorderen Teil des Schiffs. «Diesen Abschnitt meines Schulwegs mag ich besonders. Ich liebe es, draussen zu sitzen, die Sonne zu geniessen und den Wind zu spüren.»
Über die Grenze
Tom Gromann fährt täglich mit seinem Fahrrad von Kreuzlingen nach Konstanz zu Schule. Für die 5,5 Kilometer-Strecke über die Landesgrenze braucht er etwa 15 Minuten.
«Zoll» steht in grossen schwarzen Buchstaben auf dem grauen Betonbogen, der über der Strasse thront. Die Autos stehen Schlange, die Velofahrer drosseln ihr Tempo. Hier entlang führt auch Tom Gromanns Schulweg. Der 18-Jährige wohnt mit seiner Familie in Kreuzlingen TG, die Schule besucht er in Deutschland: die zwölfte Klasse des Zeppelin-Gymnasiums in Konstanz.
Den Weg über die Landesgrenze nimmt er seit der Primarschule mit dem Velo auf sich. Das Betreuungssystem sei in Deutschland einfach besser als in der Schweiz, erklärt seine Mutter Ellen Gromann. «Ich war schon früher berufstätig. Da kamen uns der Mittagstisch und die Betreuung am Nachmittag nach der Schule sehr gelegen.»
Die Gromanns sind bei Weitem nicht die einzige Familie, die diese Möglichkeit wahrnimmt. «Einige Schüler in meiner Klasse kommen aus der Schweiz», sagt Tom.
Regelmässig im Visier des Zolls
Morgens fährt der Gymnasiast aber nicht direkt zur Schule, sondern nimmt einen Umweg über den Bahnhof Kreuzlingen. Da kommt sein Freund mit dem Zug aus Uttwil TG an. Gemeinsam fahren sie dann 5,5 Kilometer weit mit dem Fahrrad zur Schule. Dass er dabei zweimal täglich den Zoll passieren muss, ist für Tom schon fast normal. «Die Zöllner stoppen mich regelmässig und durchsuchen meinen Rucksack nach Waffen und Betäubungsmitteln.» Daran habe er sich aber schon lange gewöhnt. Und etwas Verdächtiges hätten die Zöllner in seinem Rucksack noch nie gefunden.
Über den Waldhang
Marceau Bouchard pendelt für seinen Schulweg im Wallis zwischen Chalais und Vercorin. Für die 9,6 Kilometer braucht er 25 Minuten – 18 Minuten zu Fuss, sieben Minuten mit der Seilbahn.
Für Marceau Bouchard (11) beginnt das letzte Primarschuljahr – und damit schon das dritte Schuljahr, in dem er mit der Gondel zur Schule fährt. Normalerweise besuchen die Schüler in Chalais VS auch die Schule im Dorf. «Aber weil es keine Plätze mehr gab, müssen einige Kinder nach Vercorin hinauffahren.» Was wiederum garantiert, dass die kleine Schule dort oben überleben kann.
Zusammen mit 14 Mitschülern quetscht sich Marceau jeden Morgen in die Gondel. Während der siebenminütigen Fahrt geht es hoch zu. «Wir reden laut und viel. In der kleinen Kabine hallt es sehr.» Marceau ist gerne in der Seilbahn unterwegs. Auch wegen der Skiwoche und weil oben viel länger Schnee liegt. Nur wenn es für die Gondel zu stürmisch ist, wählen er und seine Klassenkameraden die längere Strecke mit dem Bus.
VIPs in der Gondel
Anstehen müssen die Schüler nie: Erwachsene, die zur gleichen Zeit hochfahren wollen, müssen den Schulkindern den Vortritt lassen. Der Stundenplan geht schliesslich vor. Und der ist in der Schule in Vercorin durchgehend. «Wir essen in der Kantine, und um zwei Uhr ist der Unterricht zu Ende.» Ab Sommer 2020 wird Marceau die Orientierungsschule in Grône besuchen. «Ausgerechnet jetzt! Wo doch eine grössere Gondelbahn nach Vercorin gebaut werden soll …»
(Artikel erschienen im Migros-Magazin am 26. August 2019)