Den Job an den Nagel hängen und noch mal ganz von vorn beginnen: Fünf Menschen berichten, wie sie sich beruflich neu erfunden und dabei viel Lebensfreude gewonnen haben.
Text: Rahel Schmucki, Monica Müller Bilder: Michael Sieber
Von der Lehrerin zur Landwirtin
Tamara Stoller (46) aus Steg ZH
«Mein Job als Sekundarlehrerin hat mich aufgefressen. Wenn man diesen Beruf gut machen und auf jedes Kind eingehen will, hört die Arbeit nie auf. 2009 habe ich dann das Angebot erhalten, in den USA auf einer Farm als Käserin zu arbeiten. Ich kündigte sofort, aber leider gab es Probleme mit dem Visum. Da habe ich mich entschlossen, mit 37 Jahren in der Schweiz eine Lehre als Landwirtin zu absolvieren. Heute wohne ich mit meinem Mann in einem kleinen Bauernhaus in Steg ZH. Hier halten wir zurzeit Geissen, Hühner, Pferde und Bienen. Ich liebe es, draussen zu arbeiten. Weil der Hof so klein ist, muss ich zurzeit noch stundenweise unterrichten. Aber im Frühling können wir einen Bergbetrieb übernehmen: Das ‹Bärloch› gehört zum ‹Wagerenhof› in Uster ZH, einer Stiftung für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. Dort werden wir mit zwei Menschen aus der Stiftung Ziegen halten und Bergkräuter anbauen.»

Vom Werber zum Yogalehrer
Stefan Geisse (48) aus Rapperswil SG
«Ich war 15 Jahre lang Manager und Berater für internationale Grosskonzerne wie Siemens oder Camel und verantwortete millionenschwere Werbebudgets. Ich setzte mich nie, entschied alles zackzack. Doch dann, schleichend, kam mir der Sinn meiner Arbeit abhanden. Die vielen Meetings gipfelten nicht in einem Produkt, vielmehr in einer diffusen Unzufriedenheit. Kurz vor meinem 40. Geburtstag erlitt ich eine Gehirnblutung und war lange krankgeschrieben. Als es mir besser ging, nahm ich mir eine Auszeit. Ich bereiste Uruguay, Argentinien, Chile und Bolivien und erholte mich. Nur drei Tage nach der Rückkehr in meinen alten Job waren die Stresssymptome und der Widerwillen zurück. Ich realisierte: Ich muss etwas Grundlegendes ändern. Seit fünf Jahren arbeite ich nun als Stresscoach, Meditations- und Yogalehrer und bin durch und durch happy. Ich kann Menschen begleiten und unterstützen, was ich unglaublich schön finde. Mutig war die Veränderung nicht – eher notwendig.»

Vom IT-Supporter zum Kammerjäger
Thomas Iseli (45) aus Brüttisellen ZH
«Als die Telekomfirma, bei der ich angestellt war, Restrukturierungen vornahm, stimmte es nicht mehr für mich: Ich suchte nach einem neuen Job. Doch ständig hiess es, ich sei zu alt oder überqualifiziert. So stieg ich temporär in die Kammerjägerfirma eines guten Freundes ein. Die Arbeit bei Insekta gefiel mir auf Anhieb, und so erwarb ich den eidgenössischen Fachausweis zum Schädlingsbekämpfer. Das Gebiet ist sehr breit und spannend. Zu meinen Kunden zählen Milliardäre genauso wie Sozialfälle. Und das Beste: Ich kann ihnen immer helfen, ihre Probleme zu lösen. Ob Bettwanzen, Ameisen, Flöhe, Motten oder Mäuse – ich weiss, wie man die Tierchen loswird. In der IT-Branche habe ich im Rückblick kaum je ein Problem von A bis Z selbständig gelöst. Kammerjäger sein macht mich viel glücklicher! Ich bewege mich mehr, bin oft draussen, lerne stets dazu. Einziger Minuspunkt: Spinnen mag ich nicht so sehr …»

Von der Liegenschaftsverwalterin zur Weltumseglerin
Marina Passet (63) aus Stein am Rhein SH
«Soeben bin ich aus La Coruña, Spanien, zurückgekehrt. Dort liegt mein Segelboot im Hafen: Im Sommer werde ich damit um die Welt segeln. Vor gut einem Jahr habe ich mich entschieden, meinen Job als Liegenschaftsverwalterin an den Nagel zu hängen und mir meinen Traum zu erfüllen. Seither arbeite ich nur noch aushilfsweise und bereite mich auf mein grosses Projekt vor. Am 1. Juni geht es dann hoffentlich endlich los: Von Spanien bis Panama werde ich in drei Abschnitten mit verschiedenen Personen unterwegs sein, und ab Panama werde ich ganz allein weitersegeln. Dafür habe ich eine grosse Reiseapotheke für alle möglichen Fälle vorbereitet. Auch wenn ich nicht alle Risiken ausschliessen kann, freue ich mich sehr auf das Abenteuer.»

Vom Businessman zum Singer-Songwriter
Sacha Nieth (46) aus Hittnau ZH
«Als Jugendlicher träumte ich davon, Musiker zu werden. Ich entschied mich aber gegen eine Ausbildung am Konservatorium, weil mein Umfeld mir eingeredet hatte, von der Musik nicht leben zu können. Dafür machte ich Karriere und gründete bereits mit 20 mein erstes Unternehmen: eine Informatikfirma. Mit 40 Jahren hatte ich eine weitere Firma mit über 100 Mitarbeitenden – und so viele Stunden gearbeitet wie ein 65-Jähriger. Da hatte ich genug. Ich verkaufte meine Firmen, um mir meinen Jugendtraum zu erfüllen. Ich gab mir ein Jahr Zeit für den Einstieg in die Musikbranche: Ich übte viel, schrieb Lieder, nahm mein erstes Album auf und trat häufig auf. Mein Umstieg hat geklappt. Heute bin ich als Sänger und Songwriter mit meiner Gitarre unterwegs und spiele meine selbstgeschriebenen Mundartlieder. Das zweite Album ist bereits in Arbeit. Obwohl dieses Leben nicht immer einfach ist, würde ich alles sofort wieder so machen.»
(Artikel erschienen im Migros-Magazin am 30. Dezember 2019)