Die Perle an der Adria besticht durch ihre unentdeckte landschaftliche Vielseitigkeit: Streifzüge durch das geschichtsträchtige Land der schwarzen Berge.
Text und Bilder: Rahel Schmucki
Mit einer starken Rechtskurve dreht das Flugzeug ab. In der Luke erscheint eine grosse blaue Fläche. «Das ist der Skadarsee, der grösste See auf dem Balkan», erklärt der montenegrinische Sitznachbar stolz. Der Skadarsee in Montenegro ist auch das Ziel der Reise: Wandern in der üppig grünen Fjord- und Uferlandschaft, gemütliche Bootstouren und Küstenspaziergänge – das verspricht das Reiseprogramm.
Erstes Ziel: Virpazar. Das Fischerdörfchen ist mit rund 1000 Einwohnern der grösste Ort am See, der nur sechs Meter über dem Meeresspiegel liegt umrahmt von hohen Bergen. Der perfekte Ausgangspunkt für Wanderungen und Bootstouren. Von hier aus kann man die Uferlandschaft und die Dörfer im Hinterland entdecken.
Geisterdörfer und Touristenmagnete
Mit einer rostigen Machete entfernt Radovan Pobor, der montenegrinische Wanderleiter, Äste und Schlingpflanzen, die den Wanderweg versperren. Er führt die Wandergruppe ins Dorf Dupilo. Hier in den Bergen ist sein Vater aufgewachsen. Der Weg führt über einen smaragdgrünen Fluss und über steinige Pfade, von wo aus man Sicht über die bewaldeten Hügel hat.
Nach einem steilen Aufstieg erscheinen ein paar Häuser auf dem Hochplateau. Fast alle sind unbewohnt. «Die meisten Menschen sind in die Hauptstadt Podgorica gezogen», erklärt Pobor. So sieht es in fast allen kleinen Dörfern aus: die Häuser verlassen und verfallen. Anders in der Bucht von Kotor, am zweiten Ausgangspunkt der Reise. Hier ziehen malerische Dörfer wie Perast und die Unesco-Weltkulturerbe-Stadt Kotor Touristen und Kreuzfahrtschiffe an.
Schnell entkommt man aber dem touristischen Treiben: Mit einem kleinen Taxiboot kann man sich über die Meerenge fahren lassen und zu Fuss auf die Hügel steigen. Auf der Halbinsel Vrmac hat man nach einem schweisstreibenden Aufstieg über blühende Wiesen Weitsicht auf die Bucht von Kotor und bis nach Kroatien. Bei gutem Wetter sogar bis nach Italien.
Land der Höhen und Tiefen
Wandern kann man nicht nur um den Skadarsee oder in der Meerenge von Kotor. Das Land der schwarzen Berge liegt zu zwei Dritteln über 1000 Metern über Meer. Auf einer Fläche von 13 812 Quadratkilometern – das entspricht etwa der doppelten Fläche des Kantons Graubünden – erheben sich 166 Gipfel. Die Gegend lädt ein zu Wander- und Mountainbiketouren – oder zum River Rafting in der tiefsten Schlucht in Europa, der Tara-Schlucht.
Auf diesen Touren lässt sich die Geschichte des Landes nicht ausblenden. Es ist eine Geschichte von Minderheiten, die sich verbündeten; vom Widerstand gegen das Osmanische Reich. Die jüngste Vergangenheit ist geprägt vom Jugoslawien-Krieg und vom Aufeinandertreffenen verschiedener Ethnien und Religionen auf einem kleinen Stück Land. Daran erinnern die Türmchen der orthodoxen Kirche und die Minarette, die in den Himmel ragen und von Weitem sichtbar sind.
Gastfreundschaft auf Schritt und Tritt
Wer in Montenegro wandernd unterwegs ist, trifft kaum Gleichgesinnte. Die Wege führen am Ufer des Sees entlang, durch Wälder mit 400-jährigen Kastanien oder über Felder mit wildem Salbei, Rosmarin und Ginster. Die abgelegenen Dörfer sind meist nur per Auto erreichbar, die Wege teilweise ohne die Hilfe eines Wanderführers kaum auszumachen.
Dafür kommt man mit den Einheimischen und deren Gastfreundschaft in Kontakt. Beim Mittagshalt tischen die Montenegriner Gebäck, Saucen, Salate, geräucherte Karpfen, selbstgebackenes Brot und Wein auf. Und nie fehlt der selbstgebrannte Schnaps, eine Art Grappa, den die Einheimischen vor jedem Essen trinken. So gleichen die Wanderungen am Nachmittag eher einem Verdauungsspaziergang als einer Bergtour.
Nach einer Woche in wilder Natur und mit viel Schnaps hebt die Reisegruppe wieder ab. Im Flugzeugfenster erscheinen ein letztes Mal die grosse blaue Fläche des Skadarsees und die Schwarzen Berge. Es gäbe noch viele unberührte Ecken zu entdecken.
Nicht verpassen
• Montenegrinische Gastfreundschaft
• Geräucherte Karpfen aus dem Skadarsee
• Aussicht vom Petar-Njegos-Mausoleum
• Schifffahrt in der Bucht von Kotor
• Kajaktour in Virpazar
Unterlassen
• Wandern in kurzen Hosen (giftige Schlangen im Unterholz!)
• Die schwarzen Berg untercshätzen
Beherzigen
• Schokolade als Gastgeschenk mitbringen
• Regenschutz mitnehmen
• Einheimische nach Geheimtipps fragen
Diese Reise wurde unterstützt von Imbach Reisen.
(Artikel erschienen in der Reisebeilage des Migros-Magazins am 23. September 2019)