Am 3. April hat Josef Vonwil im Altersheim seinen 102. Geburtstag gefeiert. Wenngleich ihn die Familie wegen der Corona-Pandemie nicht besuchen konnte, sorgte die Enkelin dennoch für eine unvergessliche Überraschung.
Text: Rahel Schmucki
Josef Vonwil ist ganz aus dem Häuschen. Der Jubilar ruft aus dem Altersheim seine Tochter an. «Ich habe drei Briefe erhalten, wunderschön. Aber diese Menschen kenne ich gar nicht.» Rita Disler, den Hörer in der Hand, lächelt vor sich hin. Sie hat nicht damit gerechnet, dass die ersten Briefe so schnell in Luzern eintreffen.
Ihre Tochter NicaDisler (40) hat Mitte März auf Facebook einen Aufruf lanciert. Mit dem Bild eines alten Mannes auf einem Stepper, einem Fitnessgerät, draussen im Park: «Das ist mein Grossvater Josef ‹Seppi› Vonwil. Er wurde am 3. April 1918 geboren. Das heisst, er wird bald 102 Jahre alt. Im Moment können wir ihn nicht besuchen, er wird seinen Geburtstag allein verbringen. Wenn euren Kids gerade langweilig ist, wie wäre es mit ein wenig gelebter Schweizer Geschichte? Recherchieren, was er alles erlebt hat, und ihm dann einen lässigen Geburtstagsbrief schreiben?»

In der Kindheit hat Nica Disler viel Zeit mit Grossvater «Seppi» verbracht. Sie haben gemeinsam gebastelt und in seiner Sattlerei gewerkelt. Heute besucht sie ihn so oft wie möglich im Altersheim. Seit das Coronavirus die Schweiz erfasst hat, ist das nicht mehr möglich. «Es hat mir fast das Herz zerrissen, dass mein Grossvati den 102. Geburtstag ohne Familie feiern muss.»
Disler entschloss sich, ihrem Grossvater einen Brief zu schreiben. «Ich kam aber kaum dazu, weil es bei der Arbeit gerade sehr viel mehr zu tun gibt.» Da kam ihr die Idee mit dem Facebook-Aufruf. Dieser wurde innert weniger Stunden 50-mal geteilt. Fast 100 Freunde, Freunde von Freunden und deren Kinder fragten Disler nach der Adresse des Grossvaters. «Ich war überwältigt, wie schnell sich dieser Aufruf verbreitete.»
Grüsse aus Hawaii und Indien
Über ein Dutzend Briefe, Scherenschnitte und Zeichnungen hat «Seppi» vor dem 3. April bekommen. Post aus Hawaii, Brasilien und Philadelphia war noch unterwegs. Aus Indien schrieb eine Frau, die gerade Deutsch lernt. «Ich schaue mir jeden der Briefe in aller Ruhe unter dem Vergrösserungsapparat an. Es ist eine schöne Beschäftigung für mich, da ich ja keinen Besuch empfangen kann», so der Jubiliar. Der Andrang war so gross, dass Nica Disler ihren Aufruf bereits nach drei Tagen stoppen musste. «Ich kam vor lauter Nachrichtenbeantworten fast nicht mehr zum Arbeiten.»
Marc und Lion haben gezeichnet.
Um das Altersheim nicht weiter mit Post zu überfluten, hat sie den alten mit einem neuen Aufruf ersetzt: «Liebe FacebookFreunde, sucht doch ein Altersheim in eurer Nähe, ruft an und fragt nach, ob es dort Menschen gibt, die fast nie Post oder Besuch erhalten, und ob ihr ihnen einen Brief oder eine Zeichnung schicken könnt. Wer weiss, vielleicht bekommt ihr Antwort und lernt mitten in eurer Gemeinschaft jemand Neuen kennen.»
Damit Menschen in Alters-/Pflegeheimen trotz Besuchsstopps nicht isoliert sind, leitet eine Gruppe die Briefe an einsame Menschen in solchen Einrichtungen weiter. Info: facebook.com/SchenkEinenBrief
(Artikel erschienen im Migros-Magazin vom 13. April 2020)