Familie Müller lebt während der Sommermonate auf der Alp Bodenfluh im Berner Oberland: Von früh bis spät verrichten drei Generationen ihr schweisstreibendes Tagwerk mit Viehwirtschaft. Und doch könnten sie sich nichts anderes vorstellen.
Text: Rahel Schmucki Bilder und Video: Monika Flückiger
Nach dem dritten Viehgatter scharf rechts und dann weiter, bis die Strasse nicht mehr weitergeht»: So erklärt uns Marlies Müller am Telefon den Weg zu ihrer Alp Bodenfluh. Und: «Habt ihr ein Auto mit Vierradantrieb?» … Da, wo die kleine Bergstrasse aufhört, ist Familie Müller zu Hause – zumindest während vier Monaten im Jahr, wenn ihre 22 Kühe, 23 Rinder und 14 Kälber auf der Alp weiden.
Der Weg schlängelt sich durchs Diemtigtal im Berner Oberland und über eine Brücke den Hügel hoch. Erstes Viehgatter: Der Blick aufs Tal öffnet sich. Zweites Viehgatter: Kühe stehen auf der Strasse und geben den Weg nur langsam frei. Drittes Viehgatter: Wir biegen scharf rechts ab. Die kleine Strasse endet auf 1600 m ü. M. in einer Einfahrt, rechts ein Schweinestall, dahinter der Ziegenstall, links das Wohnhaus mit angebautem Kuhstall. Für eine ausschweifende Begrüssung ist keine Zeit. Es ist Sonntagabend, 18 Uhr.
Drei Generationen plus eine Helferin
Auf der Alp herrscht Hochbetrieb. Res Müller (49) steht mit Tochter Rahel (14) und seinem Schwiegervater Arnold Wiedmer (73) im Kuhstall, um die Kühe zu melken. Der 17-jährige Sohn Daniel bringt mit seiner Mutter Marlies (44) die Ziegen in den Stall, der 11-jährige Bruder Roman mistet den Schweinestall aus. Ein Nachbar bringt gerade eine Kuh zurück, die im Tal ein paar Stunden mit einem Muni verbracht hat, damit sie endlich trächtig wird. Ein ganz normaler Sonntagabend bei den Müllers.
Kurz vor 20 Uhr haben Kühe, Rinder, Kälber und Ziegen ihren Weg zurück auf die Weide gefunden. Die Tiere verbringen die Nacht bis August draussen; tagsüber sind sie im Stall. «In den Sommermonaten kann es für die Kühe draussen zu heiss werden, und die Fliegen und Bremsen plagen die Tiere. Im September wechseln wir dann den Rhythmus», erklärt Res Müller.
Endlich hat die Familie Zeit für ein kurzes Abendessen: Zopf, von Rahel gebacken, Ziegenkäse, von Daniel hergestellt, Wurst aus dem Fleisch der eigenen Tiere, Joghurt vom Bauernhof einer Verwandten. Dazu frische Milch in einer Tasse. Die Küche befindet sich gleich neben dem Kuhstall, ab und zu hört man ein Muhen. Am Tisch sitzen drei Generationen: Der Senior, Arnold Wiedmer, hat den Hof an seine Tochter Marlies und deren Mann Res übergeben, hilft aber noch jeden Tag mit. Arnolds Frau Elsa kümmert sich ums Zweifamilienhaus im Tal, wo das Ehepaar Wiedmer zusammen mit der Familie der Tochter wohnt.
Marlies und Res Müller führen mit ihren drei Kindern den Betrieb. Heute ist die freiwillige Helferin Gisela (49) aus dem Schwarzwald dazugestossen (siehe auch Box). Während Daniels Chili-Geissenkäse langsam kleiner wird, erzählt Rahel von einer Studioaufnahme mit ihren Jungjodlern. Roman freut sich auf die Schulreise in der kommenden Woche, und Marlies berichtet von einem Freund, der nach Neuseeland auswandern wollte, wegen Corona aber hier bleiben musste.
Auf einmal klingelt ein Wecker, Daniel springt auf: Er muss aufgekochte Milch für den neuen Geissenkäse in Formen giessen und würzen. Seine Spezialsorten sind Chili und Alpenkräuter. Während die Flüssigkeit durch die Siebe läuft, erzählt der 17-Jährige von seinem Käsegeschäft. Schon seit sieben Jahren verdient er sich mit dem Geissenkäse sein Sackgeld. Kaufen kann man ihn in Selbstbedienungs-Kühlschränken im Tal und auf der Alp. «Mein Käse ist immer schnell weg; er ist begehrt», sagt er und lächelt stolz.
Nach Schokoladenkuchen und Kaffee mit «Niidle» – laut Res der beste Teil der Milch – löst sich die Runde auf. Der nächste Tag wird für die Familie wieder früh, schon kurz nach fünf Uhr, beginnen.
Marlies Müller (l.) mit Sohn Roman und Tochter Rahel (r.) Res Müller melkt die Kühe im Stall.
Seit Jahrzehnten betreibt die Familie Viehwirtschaft. Alle zwei Tage bringt sie 600 bis 800 Liter Milch ins Tal, je nachdem, ob sie selber Käse macht oder nicht. Für den Lebensunterhalt reicht das Geld, das sie damit verdient, schon länger nicht mehr. Für einen Liter Wiesenmilch bekommt die Familie knapp 55 Rappen. Arnold Wiedmer erinnert sich an seine Anfänge als Bauer: «Früher haben wir bis zu einem Franken erhalten.» Heute kann die Bauernfamilie nur dank Direktzahlungen vom Bund und dank Nebenerwerb überleben; Res Müller arbeitet noch als selbständiger Zimmermann.
Obwohl die Müllers jeden Tag von früh bis spät auf der Alp arbeiten, kann sich Marlies Müller kein anderes Leben vorstellen. «Ja, oft ist es anstrengend, und es gibt Arbeiten, die ich nicht wirklich mag – etwa Heuen. Aber es ist einfach das Schönste, mit den Tieren ‹z Berg› zu sein.»
Am nächsten Morgen müssen Rahel und Roman mit dem Velo zur Schule im Tal; knapp 30 Minuten dauert die Fahrt. Daniel nimmt den Traktor. Seit einem Jahr macht er eine Lehre als Zimmermann – wie alle Männer in seiner Familie. Für die Erwachsenen beginnt der Arbeitstag auf der Alp: die Tiere von der Weide holen, melken, misten, pflegen.
Im Kuhstall zischen die Melkmaschinen. Res Müller kauert neben Narzissa und reibt ihr Euter sanft mit einer Salbe ein. «Essigsaure Tonerde», erklärt er. Die 13-jährige Kuh hat einen Bluterguss. «Vielleicht hat sie einen Tritt abgekriegt oder ist beim Aufstehen selber draufgetreten.» Ihre Milch kann er nicht verkaufen – die bekommen die Kälber, bis das Euter abgeschwollen ist. Bis dahin heisst es: kühlen und behutsam massieren. «Sie ist eine Gute», erklärt er etwas verlegen seine Fürsorge. «Hat schon zehn Mal gekalbt, vier Mal gab es sogar Zwillinge.»
Obwohl die Tiere im Sommer biologisch gehalten werden, ist der Hof nicht mit der Bio-Knospe ausgezeichnet. «Das mit den Zertifizierungen ist kompliziert», sagt Res Müller. Im Sommer würden sie die Anforderungen für einen Biobetrieb zwar erfüllen, im Winter werde es mit dem für Bio nötigen Futter und Auslauf zu aufwendig. «Das lohnt sich für uns kaum.»
Nachdem auch die zwei Schweine gefüttert und die Kälber getränkt sind, warten die Steilhänge: Zeit zum Heuen. Die Hänge, die Familie Müller gepachtet hat, neigen sich teilweise um über 35 Grad.
Halsbrecherische Manöver am steilen Hang
Arnold Wiedmer und Res Müller schneiden und wenden das Gras mit Mäher und Kreiselheuer, während die Frauen mit Sense und Heugabel unterwegs sind. Die Maschinen stehen teilweise gefährlich schräg. «Das haben wir schon immer so gemacht. Ist noch nie etwas passiert», sagt Arnold Wiedmer und wendet seine Maschine. Marlies Müller nimmt das nicht so locker: «Ich kann nicht zuschauen, wenn mein Mann und mein Vater sich mit den Maschinen die Hänge hinabwagen.» Sie konzentriert sich dann ganz auf ihre Arbeit mit der Heugabel. Immer wieder richten die Männer ihren Blick zum Himmel. Kommt der Regen? Können Sie eine weitere Wiese mähen? Reicht es, um das Gras trocknen zu lassen?
Nach einem langen Tag unter drückender Sonne an den Hängen kehren Marlies Müller und Helferin Gisela um 17 Uhr verschwitzt zurück auf die Alp. Die Männer können es nicht lassen, eine weitere Wiese zu mähen. Um 18 Uhr besorgt Marlies mit den Kindern die allabendliche Arbeit: melken, misten, pflegen. Dann verlassen die Tiere den Stall, um in der Nacht an den Steilhängen zu grasen.
CARITAS
Freiwillige helfen Bergbauern
Um Bergbauernfamilien zu unterstützen, bietet die Caritas Schweiz freiwillige Helfer auf für die anstrengende Sommerzeit auf der Alp. Bei den Müllers packt ein paar Jahren regelmässig eine Hilfskraft mit an. Die Helferinnen und Helfer bleiben eine Woche bis zwei Monate – die meisten mehrmals, wie auch Gisela aus dem Schwarzwald: «Ich habe die Familie ins Herz geschlossen und mag die Arbeit auf der Alp. Seit sechs Jahren komme ich im Sommer für ein paar Wochen hierher.» In dieser Zeit schläft sie bei der Familie, arbeitet und lebt gemeinsam mit den Müllers auf der Alp Bodenfluh.
(Artikel erschienen im Migros-Magazin vom 27. Juli 2020)