Viele Schweizer tauschen den Autositz gegen den Velosattel, die Infrastrukturen hinken diesem Trend hinterher. Verschiedene Schweizer Städte machen nun die Bahn frei fürs Velo – manchmal auf Kosten der Autofahrer.
Text: Rahel Schmucki
Am St. Alban-Rheinweg in Basel fährt Lucas Linder am Rheinufer entlang. Die Strasse ist fast leer. Sie sieht aus wie eine normale Tempo-30-Zone, nur ein grosses gelbes Velozeichen auf dem Asphalt signalisiert die Velostrasse. Auf dieser Strasse, einem Schweizer Pilotprojekt, das seit 2016 läuft, haben die Radfahrer freie Fahrt: Es gilt neu Tempo 30, und der Rechtsvortritt für einbiegende Autos ist aufgehoben. «Eine angenehme Strecke für alle Radler», sagt Veloaktivist Linder aus Basel.
Der St. Alban-Rheinweg ist nur ein Beispiel. In der ganzen Schweiz machen sich Städte fürs Velo fit – neuerdings sind sie auch bereit, dabei ein Tabu zu brechen: den Autos Platz wegzunehmen. Die Städte stützen sich dabei auf einen Trend. Seit 2010 ist die Zahl der Velofahrer in allen Schweizer Städten gestiegen. Zwischen 2010 und 2015 erhöhte sich die Zahl der Zürcherinnen und Zürcher, die regelmässig Rad fahren, von 4 auf 8 Prozent. In Basel stieg die Zahl auf 12 Prozent. Neuere Daten gibt es noch nicht. Sicher ist aber: Corona hat den Trend verstärkt. Aus einer Langzeitstudie der ETH geht hervor, dass die Anzahl Kilometer, die mit dem Fahrrad seit März 2020 zurückgelegt wurde, zeitweise um bis zu 120 Prozent gegenüber dem Vorjahr zugenommen hat.
Kopenhagen ist Vorbild
Ob und wie viel das Velo benutzt wird, hängt auch davon ab, wie gut und sicher die Infrastruktur ist. «Es bringt nichts, nur Platz für die Velos zu schaffen, also Parkplätze abzubauen, Autos zu verbieten und zu hoffen, dass alle aufs Velo umsteigen. Man muss gute Alternativen bieten in Form von Infrastruktur und den Leuten Anreize geben, sie dann auch zu nutzen», sagt Thomas Sauter-Servaes, Verkehrsexperte der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Als gutes Beispiel gilt Kopenhagen. Dort kann man Velos gratis in den ÖV mitnehmen, Fahrräder haben Vortritt an wichtigen Kreuzungen, und im Winter werden als Erstes die Velowege vom Schnee geräumt.
In der Schweiz sei lange Zeit nur fürs Auto geplant worden. Es sei aber falsch, jetzt ins andere Extrem zu fallen und nur noch für das Velo zu denken. «Wir brauchen eine gesamtheitliche Planung, die für Velos und für Autos funktioniert. Nur so schaffen wir es, dass die Gesellschaft neue Massnahmen akzeptiert», sagt Sauter-Servaes.
Veloförderung in Städten ist nichts Neues. Weil es in den Innenstädten aber meistens eng ist, hat man bislang versucht, das Velo auf das Trottoir zu verbannen – besonders in der Stadt Zürich. Das hat zu Unfällen und Streit zwischen Velofahrern und Fussgängern geführt. Nun ist man bereit, an der Verteilung der Verkehrsfläche etwas zu ändern, das Auto muss Platz machen. Logisch: Wenn die einen mehr bekommen, bleibt den anderen weniger.
Vom Trottoir auf die Strasse
In Zürich will die Regierung auf der Bellerivestrasse, einer vierspurigen Einfallstrasse am rechten Seeufer, probeweise zwei Autospuren abbauen, damit diese von Fahrrädern genutzt werden können. Auch in Bern hat man bereits auf der stark befahrenen Lorrainebrücke, eine der wichtigsten Verbindungen zum Bahnhof, eine Autospur abgebaut und den Velos gegeben. Weltweit haben Städte während der Coronakrise für die Velos mehr Platz geschaffen. In New York, Wien, Brüssel und sogar in Mailand wurden Autospuren gesperrt und für Fahrräder freigegeben.
Dieses Umdenken fordert der Verein Umverkehr schon lange. Er setzt sich für eine neue Verkehrspolitik und sicherere Velorouten in der Schweiz ein. Für Geschäftsleiter Silas Hobi ist es höchste Zeit, dass sich etwas tut. «Bisher hiess es immer, es fehle der Platz für eine sichere Veloinfrastruktur», sagt Hobi. Die Beispiele würden aber zeigen, dass der Strassenraum günstig und schnell neu verteilt werden könne. Für ihn ist das Auto für den urbanen Verkehr ungeeignet. «Obwohl in Basel, Bern und Zürich eine Mehrheit der Haushalte kein eigenes Auto hat, müssen sie sich eine Restfläche des öffentlichen Raums teilen. Dabei können mit dem Velo auf der gleichen Fläche fünf Mal mehr Leute verkehren.» Hobi ist zudem überzeugt, dass der Verkehr sicherer wird, wenn es mehr Platz fürs Velo gibt.
Ein Nachteil fürs Gewerbe?
Das ist die eine Seite. Aber wenn zum Beispiel Parkplätze abgebaut werden, fürchten Gewerbetreibende, Autoverbände und Bürgerliche, dass Geschäfte abwandern würden. «Leute vom Land oder aus der Agglomeration kaufen da ein, wo sie mit dem Auto parkieren können. Fallen diese weg, wirkt sich das negativ auf die Umsätze aus», so Thomas Hurter, Zentralpräsident des Automobilclubs Schweiz. Zudem fände er es nicht gut, wenn Verkehrsträger gegeneinander ausgespielt würden. «Mehr Platz für Velos und bessere Velowege sind gut für die Stadtbevölkerung, aber weniger Platz für Autos ist mühsam für die Landbevölkerung, die in oder durch die Stadt fahren muss.»
Für Lucas Linder aus Basel ist die Velostrasse erst ein Anfang. «In Basel könnte man für die Velofahrerinnen und Velofahrer noch viel verbessern», sagt er. Der eingeschlagene Weg sei aber richtig. Linder fährt zur viel befahrenen Wettsteinbrücke, auf der Autofahrer, Trams, Fussgänger und Velos je eine eigene Spur haben. Hier ist ein Velozähler installiert. Erfreut stellt er fest: Soeben ist das 1888. Velo an diesem Tag über die Brücke gefahren.
So bleiben Sie auch in der kalten Jahreszeit im Sattel
Warme Hände:
Mit guten Handschuhen ist das Fahrradfahren im Winter viel angenehmer.
Trockene Füsse:
Überschuhe halten die Füsse warm und schützen sie vor Regen und Schnee.
Gute Bereifung:
Bei Regen können Fussgängerstreifen oder Tramschienen rutschig sein, im Herbst kann es auf den Strassen am Morgen bereits Glatteis geben.
Für die anderen sichtbar:
Die Tage werden wieder dunkler, umso wichtiger ist eine gute Beleuchtung, auch für die eigene Sicherheit.
(Artikel erschienen im Migros-Magazin am 14. September 2020)