Büffeln, basteln, Bilder malen: Was Kinder in der Schule tun, sollen sie auch im Krankenhaus tun können. Zu Besuch in der Schule des Kinderspitals Zürich.
Text: Rahel Schmucki Bilder: Gabi Vogt
Die neunjährige Kathrin kommt im Rollstuhl ins Zimmer. Heute will sie das Kartonhaus, das sie gestern gebastelt hat, mit Farben bemalen. Dafür nimmt sie den Pinsel ganz nahe an ihr Gesicht. Kathrin hat den Gendefekt Albinismus, weshalb ihr Sehvermögen stark eingeschränkt ist.
Es ist 9 Uhr morgens im Universitäts Kinderspital Zürich. Im Werkraum treffen sich heute drei Kinder, um zu malen, zu basteln und zu töpfern. Ist ein Kind für längere Zeit hier oder kommt es immer wieder, hat es ein Recht auf Bildung. Dafür sorgt im Kinderspital Zürich im Auftrag des Kantons Zürich die Schulleiterin Barbara Trechslin. Zurzeit arbeiten neun Lehrpersonen und zwei Praktikantinnen im Kinderspital. Auch Trechslin hat hier früher neben ihrem Schulleitungspensum selbst unterrichtet.

Kathrin (rechts) bastelt im Werkraum zusammen mit einer Praktikantin.
Kathrin ist hier allen bestens vertraut, da sie wegen chronischer Schmerzen immer wieder mehrere Tage im Kinderspital verbringt. Der tägliche Werkunterricht ist eins ihrer Highlights, heute hat sie sogar einen Ultraschalltermin dafür verschoben. Neben ihr töpfert ein Teenie-Mädchen ruhig eine Schale. Sie sagt kein Wort und möchte nicht erkannt werden. In ihrer Nase ist eine Sonde befestigt. Sie ist zurzeit in der Abteilung für Psychosomatik, auf der auch Essstörungen behandelt werden.
Den Anschluss nicht verpassen
Die beiden sind schon ganz vertieft in ihre Arbeit, als der siebenjährige Luca mit sei nem Vater den Raum betritt. «Er hatte eine schlechte Nacht», entschuldigt der Vater die Verspätung seines Sohnes. Luca setzt sich müde vor den roten Dinosaurier, den er in den vergangenen Tagen gebastelt hat. Sein ganzer Stolz. Auch Luca kennt man hier gut, er hat seit seiner Geburt eine komplexe Darmerkrankung und muss deshalb immer wieder für längere Zeit im Spital bleiben.

Der siebenjährige Luca hat einen roten Dinosaurier gebastelt.
Die mobilen Kinder, diejenigen, die die Abteilung verlassen können, besuchen im Spital vormittags den Werk und nachmit tags den Gruppenunterricht. Das ist wichtig, damit sie den Anschluss an ihre Klasse nicht verpassen. Tage im Spital können lang sein neben den medizinischen Untersuchungen, Behandlungen, pflegerischen Massnahmen und Therapien. «Da ist der Unterricht oft eine willkommene Abwechslung, ein Stück Alltag. Hier kann ein Stück Normalität er lebt werden», sagt Schulleiterin Trechslin.
80 Prozent des Unterrichts finden jedoch direkt am Spitalbett im Einzelunterricht statt. Beim Unterricht am Bett wissen die Lehrpersonen nie genau, was sie erwartet. Hat das Kind gerade Schmerzen? Hat es schlecht geschlafen? Hat es sich schon etwas von einer schweren Operation erholt? «Wir müssen hier alle sehr flexibel sein und auf den Zustand der Schülerinnen und Schüler Rücksicht nehmen. Ist ein Kind zu müde für die Matheaufgaben, lesen wir auch einmal ein Buch vor, spielen oder hören zusammen Musik», sagt Trechslin. Dabei spricht sie nie von Patientinnen und Patienten, sondern bewusst immer von Schülerinnen und Schülern: «Sie sollen in ihrer gewohnten Rolle die Spitalschule erleben dürfen.»
Die Lehrerinnen tragen Spitalkleider
Die Lehrerin Ariane Schweizer steht vor dem Eingang zur Stammzelltransplantation. Wie beim Unterricht am Bett üblich, trägt sie aus Hygienegründen Kleidung wie das Spitalpersonal. Für den bevorstehenden Be such muss sie durch eine spezielle Schleuse und sich und ihre Schulmaterialien gut des infizieren. Auch Materialien wie Holz sind verboten. Denn die Lehrerin besucht heute die neunjährige Sadia, die sich seit knapp drei Monaten in einer Isolationskabine befindet. Das ist eine Überdruckzelle, die etwa drei auf drei Meter gross ist. Sadia leidet an einer angeborenen Blutkrankheit und hat von ihrer kleinen Schwester eine Stammzel lenspende bekommen. Damit ihr Körper diese möglichst gut annehmen kann, muss sie vor allen Keimen geschützt werden. Sadia steht noch ganz am Anfang des Prozesses zur Wiederherstellung ihres Immunsystems.

Ariane Schweizer unterrichtet Sadia, die sich in einer Isolationskabine befindet.
«Eigentlich sind meine Lieblingsfächer Turnen und Schwimmen», sagt Sadia. Da rauf muss sie zurzeit aber verzichten. Dafür lernt sie heute mit Schweizer viel über Geld. «Welche Noten nimmst du aus dem Portemonnaie, damit du 250 Franken in der Hand hältst?», steht da zum Beispiel auf dem Arbeitsblatt. Auf Sadias Bett liegt auch ein Tablet. Damit kann sie mit ihren Klassenkameraden chatten und sich ab und zu auch per Video zum Unterricht zuschalten.
Viele Kinder sind langjährige Patienten
Der Austritt aus der Überdruckkabine steht bald an: Sadias Körper hat die Spende gut angenommen. In wenigen Tagen wird sie aus der Isolationszelle herausdürfen. Nach der Entlassung aus dem Spital muss Sadia für einige Monate Menschenansammlungen meiden, spezielle Hygienevorschriften be achten und für Kontrolltermine regelmässig ins Kinderspital kommen. Sie wird vorläufig auch noch nicht in die Schule gehen dürfen. «Das macht mich sehr traurig», sagt sie.
Viele der Kinder im Spital sind heute langjährige Patientinnen und Patienten. Der Fortschritt in der Medizin führt dazu, dass es immer bessere Behandlungsmethoden für schwere Krankheiten gibt, mit denen die jungen Patientinnen und Patienten geheilt werden oder länger leben können. Diese chronisch kranken Kinder müssen regelmässig zu Untersuchungen und Behandlungen ins Kinderspital kommen. So entstehen gute, zum Teil langjährige Beziehungen zu den Schülerinnen und Schülern und deren Eltern. «Manchmal gibt es auch Kinder und Jugendliche, von denen wir uns für immer verabschieden müssen, auch für uns ein sehr intensives Erlebnis», sagt Trechslin und schaut für einen Moment berührt zur Seite.

Die achtjährige Noor hat einen Text über das Igelzentrum geschrieben und ein Bild dazu gemalt.
Kurz vor dem Mittagessen sitzt Noor etwas müde auf ihrem Bett auf der onkologischen Abteilung. Die Ärzte haben der Acht jährigen einen Tumor aus dem Bein operiert. Wegen der beginnenden Chemotherapie trägt sie eine Wollmütze auf dem Kopf. Heute hat Noor einen Text über das Igelzentrum geschrieben und ein Bild davon gemalt. Sie hatte das Zentrum mit ihrer Klasse noch vor der Operation besucht. Noor hat damit ihre Aufgaben für den heutigen Tag frühzeitig erledigt. Nun darf sie zur Belohnung mit der Praktikantin eine Partie Biberbande spielen. Das machen die beiden schon seit Tagen
und schreiben sich die Siege auf. Heute ist es ein KopfanKopfRennen, das Noor am Ende mit 13 zu 12 Siegen knapp für sich ent scheidet. «Gewonnen!», ruft sie stolz und sitzt strahlend auf ihrem Spitalbett. Die Ab lenkung vom Spitalalltag ist gelungen.
(Erschienen im Migros-Magazin von 25. März 2024)